In letzter Zeit hat wohl keine Abmahnwelle die sprichwörtlichen Wellen so hoch geschlagen, wie die sogenannten Pornoabmahnungen, die die Kanzlei Urmann + Collegen (U+C Rechtsanwälte) stapelweise durch die Republik geschickt hat. Im Vergleich zu den Abmahnungen wegen Filesharings, an die man sich zwischenzeitlich gewöhnt hat, weist die jüngste Abmahnwelle doch einige Besonderheiten auf. Dreh- und Angelpunkt dieser Besonderheiten ist, dass den Abgemahnten nicht vorgeworfen wird, ein urheberrechtlich geschütztes Werk öffentlich zugänglich gemacht zu haben, wie dies beim Filesharing üblich ist. Vielmehr wird den Abgemahnten vorgeworfen, sich auf dem Portal „redtube.com“ ein Video pornografischen Inhalts angesehen zu haben. Die anonymisierte Kopie einer solchen Abmahnung findet sich hier. Mit diesem Vorwurf einher geht natürlich die freundliche Aufforderung, Kosten zu erstatten und Schadensersatz zu leisten. Insgesamt taxiert man diese Positionen namens der The Archive AG auf günstige 250,00 €.
Während die Rechtslage noch vergleichsweise eindeutig ist, bleibt der Sachverhalt im Wesentlichen unklar. Eindeutig ist die Rechtslage hauptsächlich deshalb, weil es auf viele Fragen, die andernorts eingehend diskutiert werden, letztlich nicht ankommt. Zwar mag man durchaus zweifeln, ob den Filmchen mit wohlklingenden Namen wie „Amanda’s Secrets“ überhaupt Werkqualität zukommt, und wenn nicht, ob ihnen wenigsten der Laufbilderschutz zusteht, was wiederum voraussetzen würde, dass die fremdenrechtlichen Vorschriften des Urheberrechts gewahrt sind. Auch mag man zweifeln, ob die Abmahnungen den formalen Anforderungen genügen, also wirksam ausgesprochen worden sind. Darüber hinaus mag man überlegen, ob das bloße Streaming von Videos überhaupt eine Urheberrechtsverletzung darstellt. Im Ergebnis steht dem Abgemahnten aber ohnehin eine wichtige Vorschrift zur Seite: Die Privatkopie gemäß § 53 UrhG. Danach ist das Streaming im privaten Bereich jedenfalls dann zulässig, wenn keine offensichtlich rechtswidrig öffentlich zugänglich gemachte Vorlage verwendet wird. Und offensichtlich rechtswidrig sind Portale wie „redtube.com“ wohl nicht.
Viel interessanter ist daher die Frage, wie die The Archive AG eigentlich an die Adressen der Abgemahnten gekommen ist. Beim Filesharing läuft das üblicherweise wie folgt ab: Der Rechteinhaber oder ein von ihm beauftragtes Unternehmen greift mit einem speziellen Programm auf die Tauschbörse zu, sucht mit diesem Programm nach seinen Werken und stößt einen Download an. Bei diesem Download erhält er dann die IP-Adresse des Nutzers, der das jeweilige Werk in der Tauschbörse angeboten hat. Nun ermittelt er den Internet-Provider, der diese IP verwaltet und stellt beim zuständigen Landgericht einen sogenannten Auskunftsantrag. Darin erläutert er, an welche IPs er wie gelangt ist, und erhält nach (mehr oder eher minder) eingehender Prüfung des Antrags durch das Gericht einen Beschluss. Diesen Beschluss legt er schließlich dem Provider vor, der die Daten seiner Kunden an den Abmahner in spe herausgibt. Den Rest erledigt die praktische Serienbrief-Funktion.
Beim Streaming gibt es allerdings keine Tauschbörse und damit auch keine speziellen Programme, die einen Download anstoßen könnten, um die IP-Adressen zu ermitteln. Schließlich bietet der Nutzer das jeweilige Werk gar nicht zum Download an. Es stellt sich also die Frage, wie die The Archive AG im vorliegenden Fall an die IP-Adressen gekommen ist. Denkbar wäre zunächst, dass „redtube.com“ die Adressen protokolliert und diese Protokolle herausgegeben hat. Eine solche Herausgabe wird aber nicht nur von „redtube.com“ bestritten, sie wird auch nicht vom Abmahner behauptet. Behauptet wird vielmehr folgendes: Man habe eine zuverlässige Ermittlungssoftware namens „GLADII 1.1.3“ verwendet. Wie genau diese Software funktioniert, erläutert man nicht. Dafür beteuert man umso mehr, dass schon alles seine Richtigkeit habe, was den zuständigen Richtern (zumindest teilweise) wohl genügt hat.
Es wird zurzeit also viel spekuliert, wie die The Archive AG an die IP-Adressen gekommen ist. Mancherorts ist von einem Virus die Rede, der die Nutzer ausspioniert und / oder auf „redtube.com“ geleitet haben soll. Neue Erkenntnisse legen jedoch einen anderen Verdacht nahe: Mehrere Abgemahnte haben Ihren Browser-Verlauf geprüft und dabei festgestellt, dass sie nur über einen Umweg überhaupt auf „redtube.com“ gelandet sind. Der Umweg führte sie von einem Werbedienstleister über „redtube.net“ direkt zu einem Video der The Archive AG. Auf diesem Umweg lässt sich natürlich auch die IP-Adresse mitschreiben, nämlich wenn man Zugriff auf „redtube.net“ hat. Und diese Domain ist interessanterweise erst wenige Tage vor den abgemahnten Rechtsverletzungen überhaupt registriert worden – natürlich anonym. Der Verdacht, dass Nutzer gezielt auf einen Pornofilm geleitet worden sind, um bei der Umleitung die IP-Adressen mitzuschreiben, die dann die Grundlage der Abmahnungen bilden, ist also nicht völlig von der Hand zu weisen. Wer auch immer dafür verantwortlich sein mag, er muss sich wenigstens noch folgende Frage gefallen lassen: Wie wurde festgestellt, ob der jeweilige Nutzer den Film auch wirklich angesehen hat? Denn ohne Drücken des „Play“-Buttons startet das Streaming üblicherweise nicht.
Im Ergebnis dürfte den Abmahnern eine lückenlose Beweiskette aber auch herzlich egal sein. An dieser Stelle kommen nämlich die allseits beliebten Sofortzahler ins Spiel: Statistisch gesehen zahlt jeder fünfte Abgemahnte, egal ob er sich einer Schuld bewusst ist oder nicht, sofort. Eine gute Quote, die sich sicherlich noch dadurch erhöhen lässt, dass der bereits angesprochene Werbedienstleister ein sogenannter Adult-Traffic-Broker gewesen sein soll, der Nutzer von Pornoseiten unfreiwillig auf andere Pornoseiten leitet. Mit anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Abgemahnte zumindest irgendeine Pornoseite aufgerufen hat, ist recht hoch. Im Zweifel wird er auch nicht mehr genau wissen, welche Seite dies gewesen ist. Umgekehrt kann er also kaum ausschließen, dass er sich nicht doch vor Wochen oder Monaten einmal mit Amanda’s Geheimnissen vertraut gemacht hat.
Bemühen wir an dieser Stelle ein Rechenexempel mit fiktiven, aber nicht unrealistischen Zahlen: Es werden 50.000 Abmahnungen ausgesprochen. 20 % der Abgemahnten sind Sofortzahler. Es zahlen also 10.000 Nutzer jeweils 250,00 €, macht insgesamt 2.500.000,00 €. Die restlichen 80 % der Abgemahnten unternehmen nichts, der ein oder andere zahlt vielleicht auf die erste oder zweite Mahnung und ein paar wenige ergreifen von sich aus rechtliche Schritte. Diese Verfahren zieht man dann in die Länge, lässt am Ende „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“ ein kostengünstiges Versäumnisurteil ergehen oder erkennt den Klageanspruch „ohne Präjudiz für die Sach- und Rechtslage“ an. Ein solches Urteil enthält dann nicht einmal eine Begründung, auf die sich andere Abgemahnte stützten könnten. Und wenn alle Stricke reißen, ist eine neue Gesellschaft schnell gegründet – natürlich nachdem die Zweieinhalbmillionen Euro ihren Besitzer gewechselt haben.